BioGeoChemistry of Tidal Flats

Newspaper articles

Ein Turm mißt, ob die Inseln verschwinden

Nordsee: Im Watt läuft ein weltweit einzigartiges Experiment

Sylt, Amrum oder Norderney: Wissenschaftler untersuchen, wie der Sand im Meer verteilt wird.

Von Eckart Granitza

Die ostfriesischen Inseln und das Watt verdanken ihre Existenz dem Gezeitenstrom und dem Seegang. Diese Kräfte schwemmen den Sand an, den die Inseln zu ihrem Küstenaufbau benötigen. Und auch das Watt braucht die Sedimentzufuhr, um den stetigen Meeresspiegelanstieg im letzten Jahrhundert auszugleichen. Sollte sich der Anstieg fortsetzen oder gar beschleunigen, haben Inseln und Watt bald ein Problem: Sie bekommen nicht genug Nachschub, um den Anstieg des Meeresspiegels auszugleichen. Um die Sedimentbewegungen verfolgen und quantifizieren zu können, haben Wissenschaftler der Uni Oldenburg und des Forschungsinstituts Senckenberg in Wilhelmshaven einen Meßturm im Wattfahrwasser nahe der Insel Spiekeroog errichten lassen. Der 40 Meter hohe Turm steht 14 Meter tief im Wasser und ist weitere 15 Meter tief in den Nordseesand eingegraben. Durch den im Inneren begehbaren Pfahl führen zehn Rohre, in denen Meßgeräte angebracht sind. Der 500 000 Euro teure Meßturm, den die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanziert, stellt ein weltweit einzigartiges Instrument für die Wattforschung dar. In Abständen von drei Metern werden Daten wie Druck, Sauerstoff, Temperatur, Leitfähigkeit sowie Strömungsrichtung und -geschwindigkeit des Wassers ermittelt. Die Meßdaten werden alle zehn Minuten per Funk an eine Station auf Spiekeroog übertragen und dort ins Internet eingespeist. Dann werden sie an der Uni Oldenburg, dem Max-Planck-Institut für marine Mikrobiologie in Bremen, dem Senckenberg-Institut und dem Forschungszentrum Terramare in Wilhelmshaven ausgewertet. "Unsere ersten Messungen zeigen, daß das ganze System momentan überwiegend von dem eigenen Sedimentreservoir leben muß", erklärt Prof. Burghard Flemming vom Forschungsinstitut Senckenberg. Inseln wie Wangerooge, Sylt und Norderney müssen schon heute mit zusätzlichem Sand beliefert werden, um den Touristen noch reizvolle Strände bieten zu können. "Und das ist erst der Anfang", meint Flemming. Er rechnet damit, daß sich die Inseln langfristig immer weiter zur Küste hin verlagern und ihre meerzugewandte Seite langsam von den Fluten aufgefressen wird. Gegenmaßnahmen, wie beispielsweise Strandaufspülungen, werden die heutigen Kosten des Inselschutzes um ein Vielfaches übersteigen. "Das Problem wird durch den generellen Mangel an Sand in dieser Meeresregion noch verstärkt", so Flemming. Denn Deutschland verfügt nicht wie Holland über ausgedehnte Sandbänke vor der Küste, von wo man immer wieder Nachschub holen kann. "Ob und welche Maßnahmen gegen solche langfristigen natürlichen Veränderungen ergriffen werden, ist Sache der Politik. Wir können nur Entscheidungshilfen geben und sehen, ob die Veränderungen natürlicher Art sind oder vom Menschen gemacht", sagt Prof. Jürgen Rullkötter von der Uni Oldenburg. Die Inselverlagerungen in Richtung Festland sind langfristig sicher nicht aufzuhalten. "Und wir haben noch ein mindestens genauso großes Problem. Denn durch den schon seit dem Mittelalter kontinuierlich zunehmenden Deichbau", so Rullkötter, "können sich die feinen Korngrößen wie Schluff und Ton an den durch Seegang stark durchwirbelten Deichküsten kaum noch absetzen." Diese brauchen mehr Zeit und ruhigeres Wasser, als der gröbere und schwerere Sand, um zu sedimentieren. In Regionen mit vielen Deichen schwappt das Wasser aber ständig an diese Befestigungen. So schweben die feinkörnigen Sedimente weiterhin im Wasser und können sich nicht absetzen. Dadurch findet dann mit den Gezeiten ein Export von feinkörnigen Sedimenten wie Schluffen und Tonen ins offene Meer statt. Das Watt versandet. "Welche Folgen das für dieses einzigartige Biotop haben wird, ist noch gar nicht absehbar", meint Rullkötter. Um die Veränderungen im Sedimenthaushalt zu quantifizieren, haben die Wissenschaftler den Messturm genau im Wattfahrwasser des sogenannten "Tores zur Nordsee" zwischen Spiekeroog und Langeoog aufgestellt. Durch diese als Seegat bezeichnete Passage strömt im Wechselspiel der Gezeiten fast alles Wasser in das dahinter liegende Wattbecken hinein und wieder heraus. "Also müssen auch die Sedimentkörner da durch", so Flemming. "Seit August 2002 messen wir mittels Schallwellen vom Fuß des Turmes aus den Schwebstoffgehalt des Meereswassers." Die treibenden Partikel reflektieren den Schall zurück zu den Meßgeräten am Meßpfahl, wo Sensoren Größe und Menge der Teilchen erfassen. Eine erste Auswertung bestätigte die Vermutung, daß das Watt feinkörniges Sediment an die Nordsee verliert. Gerade bei schwerem Seegang wurde mehr Sedimentfracht im ablaufenden als im auflaufenden Wasser registriert. Die mit den Daten des Meßturms gefütterten Computermodelle sollen weiteren Aufschluß über die Transportwege der Fracht geben. Die Sedimentmessungen sind mit Schiffen gar nicht möglich. Doch der Meßturm kann auch bei Stürmen registrieren, wieviel Sedimentmaterial zwischen Watt und Nordsee ausgetauscht wird. "Und gerade bei extremen Wetterlagen etwa ab Windstärke sieben entscheidet sich, ob das Watt als Spätfolge des Deichbaus weiterhin Schluffe und Tone, also den sogenannten Schlick verliert." Die "Versandung" hat noch weitere Folgen. "Lebewesen, die auf feinkörnige Sedimente angewiesen sind, könnten in naher Zukunft durch andere, mehr sandliebende Arten verdrängt werden", fürchtet Flemming. Besonders der Lebensraum für die Schlickbewohner, wie Würmer und Muscheln, wäre gefährdet. Diese haben eine wichtige Reinigungsfunktion in dem sensiblen Ökosystem und sind außerdem Nahrungsgrundlage für viele Jungfische. Jungfische und Garnelen sind wiederum für die riesigen Schwärme von Zugvögeln, die zweimal jährlich das Wattenmeer aufsuchen, ein willkommenes Speiseangebot. Kommt das Watt aus dem Gleichgewicht? Noch lassen die Messungen keine solche Rückschlüsse zu. "Sollte sich allerdings der Trend der Versandung fortsetzen," sagt Rullkötter, "werden wir zukünftig ein andersartiges Watt haben als heute."

erschienen am 31. August 2005